Der rettende Engel hieß August Gaul -
Ernst Barlach und das Lockstedter Lager

  Barlach Teil 1
  August GaulEigentlich nur Intermezzo in einem Intermezzo, eine Denkwürdigkeit aber doch – auch Bildhauer Ernst Barlach wurde Ende Januar 1916 eine Woche lang zwischen den Baracken und Schießanlagen des Lockstedter Lagers gedrillt. Geprägt waren die Tage im nachmaligen Hohenlockstedt von seltsamer Zwiespältigkeit: Versetzt in ein anonymes Massenschicksal, schwankend zwischen Erfahrungshunger und Pflichtbewusstsein, spielte sich sein Aufenthalt dort letztlich doch vor der Ausnahme-Kulisse einflussreicher Freunde ab, die – ohne sein Zutun – gleichzeitig auf höchster Ebene seine Ausmusterung betrieben.
Für den Hintergrund des Ganzen muss man etwas weiter ausholen:
Gerissen hatte der Gestellungsbefehl zum Infanterie-Regiment 85 den 46jährigen nicht nur von der Arbeit in seinem Pferdestall-Atelier in Güstrow, sondern auch aus der ersten – seit ein paar Jahren – sicheren Existenz seines Lebens. Jahrzehntelang war der Sohn eines aus Herzhorn stammenden Landarztes vordem seiner Berufung nachgelaufen:
Aufgewachsen in Wedel, Schönberg und Ratzeburg, machte ihn die Praxis des Vaters früh mit Tod und Leiden bekannt. Als der Vater mit 45 Jahren einer Lungenentzündung erlag, war die Zeit der Schmöker und Indianerspiele endgültig vorbei – Witwe Barlach hinterblieb mit insgesamt vier Söhnen, die sie in den folgenden Jahren mühsam durchbrachte. Ernst Barlach 1894Ernst hatte allerlei gestalterische Neigungen entwickelt, um sie für den Broterwerb nutzbar zu machen, schickte Mutter Barlach ihren Ältesten also auf die Hamburger Gewerbeschule – aus dem Sohn von Kantor Hempel nebenan war da auch was geworden. Unter Anleitung seines älteren Studienkollegen Garbers entwickelte sich Musensohn Ernst in Hamburg aber vorerst zum Möchtegern-Bohemien, der nächtens ausgreifende Dichtungsfragmente auf´s Papier warf, tagsüber in Antikensälen Figuren gipste und zwei Mal pro Woche einen Eilbeker Vorstadtsaal zum Akt-Zeichnen frequentierte. Während der übrigen Zeit setzte in der „Elbschlucht“ und anderen Bierkneipen „Künstlerleben in unsicherer Nachahmung unklarer Vorbilder ins Werk“. Mit Garbers ging er 1891 auch an die Dresdener Akademie und 1896 für ein Jahr nach Paris, wo er schnitzte, einen „Geisterroman“ anfing, sich zum Glück aber auch viele Tage in Louvre-Besuchen verlor. Zurück in Hamburg, war das väterliche Erbe aufgebraucht, Garbers beschaffte jedoch stattliche Bildhauer-Aufträge: so klatschten sie u.a. eine 7 Meter hohe Figur (Neptun in einer von Pferden gezogenen Muschel) ans neue HAPAG-Gebäude an der Alster. Künstlerisch unfertiges Stückwerk, wie noch die nächsten Stationen: Ein Ladenatelier in der Kuhstraße in Wedel ( Haupteinkommensquelle: Grabsteine) und eine 1904 / 05 von Design-Gründervater Peter Behrens vermittelte Lehrerstelle an der Keramikschule Höhr im Westerwald. Erst eine Reise nach Charkow in der Ukraine 1906 (Bruder Hans betrieb dort ein Maschinen- und Heizungsbau-Unternehmen) geriet zum Erweckungserlebnis: Bei den Bauernmärkten, Landstreichern und Elendsgestalten des dortigen Straßenlebens erblickte er endlich die Inbilder vom Menschen als „armer Vetter Gottes“, die ihm vage immer vorgeschwebt hatten – drastisch-plastisch setzt er sie fortan zu Verkörperungen niederdeutsch-protestantischer Erdhaftigkeit um. Zwei Bettlerfiguren, 1907 in der Berliner „Secession“ ausgestellt, bewirkten den zweiten Umschwung: Bildhauer-Kollege August Gaul, zusammen mit dem millionenschweren Kunstsammler, -Händler und Verleger Paul Cassirer und dessen Gattin (und Salonlady) Schauspielerin Tilla Durieux einflussreichstes Trio im Berliner Avantgarde-Kunstbetrieb, wurden auf ihn aufmerksam. „Paulchen & Gaulchen“ hatten schon diverse Karrieren angestoßen, Cassirers Firma betreute namhafte Künstler exklusiv. Im Hause Gauls lernte man sich kennen, noch ein halbes Jahr Drängen brauchte es aber, bis sich Barlach wegen privater Kalamitäten zu einem Vorkaufsrechts-Abkommen bereitfand: Während seines Charkow-Aufenthalts 1906 war in Berlin sein Sohn Klaus geboren worden, Spross einer kurzen Liaison. Nach zwei Jahren Gerichtsstreit hatte man ihm nun die Vormundschaft zuerkannt. (Die Pflege übernahm Barlachs Mutter, sobald sie aus den USA zurückgekehrt war – per Segelschiff vom nördlichsten Ende der amerikanischen Westküste herunter um Kap Horn – in Texas und bei Seattle hatte sie sich zuvor bei misslungen Farm-Experimenten ihrer beiden Jüngsten mit durchgehungert.) Mit Cassirers Vorschüssen brachte er nun beide Angehörige in Güstrow unter – eher zufällig, Bruder Nikolaus hatte dort ein Durchgangs-Quartier – und pendelte noch für einige Zeit zwischen Güstrow und seinem Berlin-Friedenauer Atelier. Nach einem Aufenthalt in der Villa Romana in Florenz 1909 siedelte er sich dann fest in Güstrow an. Begünstigt durch die Abgeschiedenheit, von Cassirer verrentet und zur Produktivität angetrieben, hatte er sich seitdem als Bildhauer, Graphiker, Schriftsteller, gelegentlich auch Zeitschriften-Illustrator für „Jugend“ und „Simplicissimus“ stetig einen Namen gemacht.
  Arbeiten am eisernen HindenburgNichts weniger als seine Existenz stand also im Herbst 1915 auf dem Spiel, als ihn der Kaiser zu den Fahnen rief. Zeittypisch-patriotisch wollte er sich dem auch gar nicht entziehen, hatte sich schon vorher zur Krankenpflege gemeldet, war zu seinem Verdruss aber nur für die Verpflegungsstelle für durchfahrende Soldaten am Güstrower Bahnhof und als Hausarbeits-Aufsicht in Schulen beansprucht worden. Dem Wunsch, endlich die Landsturmflinte in die Hand zu kriegen, war sein Hausstand natürlich im Weg: Was zuhause werden soll, ist mir schleierhaft, heißt es in einem Brief an August Gaul, da meine Mutter fast hinfällig ist. Seine eigene schwache Konstitution zählte für ihn dagegen nicht: Meine Defekte aufzuzählen mit der Absicht, zurückgeschickt zu werden, wäre ich wohl nur unter ganz besonderen Umständen fähig. Da sagt man aus Ekel, als Drückeberger angesehen zu werden, lieber zu wenig als genug. Tatsächlich war diese Einstellung damals allgemein: Vom Hurra-Patriotismus bei Kriegsausbruch war zwar nichts mehr übrig, aber aus irgendwelchen Gründen nicht eingezogen zu sein, belastete fast jeden davon betroffenen Mann angesichts der Kriegsopfer beträchtlich. Weiter dachte nur Förderer Gaul, der Mitte 1915 allein vom Berlin Trio übrig geblieben war: Paul Cassirer, kurzfristig ebenfalls ausgehoben, hatte als Landsturmmann in Rathenow bei Berlin eine so schwere Psychose befallen, dass Gattin Tilla ihn ( und sich ) nach dem Sanatoriums-Aufenthalt kurzerhand in den nächsten Zug in die Schweiz verfrachtete.
Barlach der Kunst zu erhalten, ihm dies aber auch moralisch schmackhaft zu machen, verfiel Gaul auf einen gewitzten Dreh: Mit seinen Verbindungen zu obersten Stellen bracht er ihn darauf ins Gespräch, einen „eisernen Hindenburg“ zu fabrizieren (eine damalige Attraktion für Kriegsspenden: hölzerne Nationalsymbole, in die man gegen Entgelt Eisen- oder auch Goldnägel schlagen konnte.)
Falls der alte Generalfeldmarschall ihm im Hauptquartier Modell säße, wäre er dem Kriegsdienst ohne falsches Gewissen für geraume Zeit entzogen gewesen. Barlach reagierte entsprechend aufgeschlossen: Lieber Gaul, ich bin freudig einverstanden, einen eisernen Hindenburg zu versuchen. Ob es mir gelingt und ob ich die Zeit behalte, ist eine zweite Frage, denn ich bin kürzlich zum Landsturm II als Infanterist ausgehoben und warte auf weiteres.
Eiserner HindenburgDie Frage, ob dieses Unikum zustande käme (Hindenburg-Skizzen sind erhalten) zieht sich bis Ende 1915 durch Barlachs Briefwechsel, schob die Dienstpflicht aber nicht auf. Für den 8. Dezember beorderte ihn der berüchtigte „rote Zettel“ nach Sonderburg – damals noch nordschleswiger Außenzipfel des deutschen Kaiserreichs. Während seine Mutter in Güstrow mit Ischias, sein Söhnchen mit Scharlach darniederlag, flitzte er nun im eisigen Ostseewind über Sandplätze, klopfte Griffe auf russischen Beutekarabinern und übte sich kurz vor dem Fest auch im militärischen Weihnachtslieder-Singen. Barlach: Ein „Lehrer“ wurde vom Feldwebel kommandiert, den Text vorzubeten, dann schwenkte er den Arm und dann brach die tausendstimmige „Stille Nacht“ heran. Bei all dem hoffte er weiterhin auf positiven Hindenburg-Bescheid. Eingemietet war er privat bei einer Familie Iversen, die – dänisch gesinnt – ihm von ihrem Weihnachtsklöben kaum etwas abgab, ihm aber immerhin jeden Abend ein warmes Federbett bereithielt. Ein reichhaltiges Fresspaket aus Güstrow half über die Feiertage hinweg. Vor Sylvester wurde es dann dienstlich ernst: Heute haben wir nach drei Wochen Ausbildung zum ersten Mal scharf geschossen erfuhr August Gaul und zugleich habe ich eine Vorübung für Flandern mit den Stiefeln voll Wasser gemacht. Generell hatten seine Herren Feldwebel, die uns alten Leute, alle über 40, wie die Lausbuben traktieren, keinen Schimmer davon, dass sie einen der bedeutendsten Bildhauer das 20. Jahrhunderts vor sich hatten und behandelten ihn wie alle anderen als „Bande, Blase, als überführter Tunichtgut“, oder „Gesellschaft, die man sich schämen muss zu kommandieren“. Prompt verstauchte er sich im Exerzierplatz-Schlamm den Fuß. Am nächsten Tag trat er mit an, weil es zum Schießen gehen sollte, aber wir mussten mit Gewehr über Schützengräben, die voll Wasser standen, springen, was mein Fuß nicht erlaubte. Ich kam also ins Wasser statt aufs Jenseits und hatte die Schaftstiefel bis oben voll. Half mir aber alles nichts, ich musste mit zum Schießplatz, musste schießen und den anderen Dienst mitmachen und durfte mich erst dann nach Hause trollen. Es scheint aber auch nicht geschadet zu haben. Die Leute wissen wohl, was man den Menschen zutrauen darf. Ich kann also wohl sagen, dass ich Soldat mit einer gewissen Freudigkeit bin, wenn auch vieles anders ist, als man dachte. Auf der höheren Ebene der Barlach´schen Wehrertüchtigung war hingegen eine Kunstpause eingetreten. Wie er Gauls letztem Brief entnehmen musste, war es dessen Mittelsmann im Hauptquartier nicht gelungen, ihn bei Hindenburg als Portraitplastiker durchzusetzen, der wollte „jemanden, der schon Studien im Hauptquartier gemacht“ habe.

  Zur Zeit von Barlachs Kommiß-Erfahrung tobt der I.Weltkrieg schon 1 1/4 Jahre: Die deutsche West-Offensieve ist, nach Anfangserfolgen, in Frankreich zum fast unüberwindlich ausgebauten Grabenkriegs-System erstarrt (was man jetzt erstmals mit Giftgasangriffen zu ändern versucht). Im Osten sind die in Ostpreußen eingefallenen russischen Armeen schon im August 1914 unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall von Hindenburg bei Tannenberg geschlagen worden, inzwischen stehen Warschau und Brest-Litowsk unter deutscher Militärverwaltung. In Afrika kämpfen Kolonialtruppen; Italien hat im Mai 1915 den „Dreibund“ mit Deutschland und Österreich-Ungarn gekündigt und bekämpft seine ehemaligen Verbündeten seitdem mit „Alpenkrieg“ und Seegefechten im Mittelmeer. Zur gleichen Zeit versenkt ein deutsches U-Boot vor der irischen Küste den britischen Ozeandampfer „Lusitania“; unter den 1198 Toten sind auch 128 amerikanische Passagiere. Das bringt die offiziell noch neutralen USA (heimlich unterstützen sie die West-Alliierten schon seit geraumer Zeit massiv mit Rüstungslieferungen) endgültig auf Kriegskurs. Die Idee des neu ernannten Chefs der obersten Heeresleitung, Generalfeldmarschall von Falkenhayn, dem US-Kriegseintritt zuvorzukommen, steht indes kurz vor Ausführung: Durch einen konzentrierten Angriff auf befestigte französische Forts um die Stadt Verdun soll der Gegner in eine kolossale Entscheidungsschlacht „ausgeblutet“ werden. Jeder verwendungsfähige Deutsche wird mobilisiert. Als das jahrelange Millionen-Blutbad im Februar 1916 losbricht, ist Landsturmmann Barlach aber schon wieder auf unbestimmte Zeit vom Wehrdienst freigestellt.