Happening-Künstler Prof. Bazon Brock: Geistvoller Schabernack schon als Kaiser-Karl-Schüler

 

Mummenschanz für Deutschland

  »Ich saß also am Flügel in der Aula des Kaiser-Karl-Gymnasiums in Itzehoe und machte Musik, wie sie mir richtig zu sein schien. Acht Jahre später habe ich tatsächlich solche Musik als Komponistenleistung kennengelernt. Das hat mich ungeheuer stolz gemacht. Obwohl im eigentliche Sinne musikalisch völlig ungebildet, war es mir gelungen, produktiv zu musizieren. Daß ich das als Schüler an den Nachmittagen in der Aula aus meiner eigenem Bewegtheit heraus zustande gebracht habe, war ein musikalisches Schlüsselerlebnis bis auf dem heutigen Tag.«

Die KKS-Aula als Schauplatz einsam beglückender Stunden — noch gut 30 Jahre später, 1985, entsann sich Ästhetik-Professor Bazon Brock in einem Gespräch über »musikalische Bildung" seiner damaligen Experimentalmusik. Auch was er dachte, wenn ein anderer —wohl Musikdirektor Heinrich Paulsen — am selben Flügel saß, wußte er noch:
Ich kann mich noch deutlich entsinnen, daß ich in meiner Schulzeit am Kaiser-Karl-Gymnasium in Itzehoe während des Singens von ,Ein feste Burg ist unser Gott" oder der Nationalhymne — das war damals noch obligatorisch — immer gedacht habe: Moment, wie war das mit diesen physikalischen Aufgaben oder wie hieß die Latte der Vokabeln in Latein — nur um mich nicht von der Musik überwältigen zu lassen.

Brock denkt sicher häufiger an Itzehoe, als die Itzehoer an ihn. Wem ist schon geläufig, dass, einer der wichtigsten deutschen Pop-Art-Theoretiker und Happening-Künstler als Oberschüler viele Jahre an der Alten Landstraße 44, kurz hinterm Ostlandplatz, wohnte?

 

Künstlername vom KKS-Direktor

Daß Brock sogar seinen Künstlernamen Bazon (griechisch "der Schwätzer") dem KKS-Unterricht verdankt? Brock, der die KKS noch mit dem Vornamen Jürgen absolvierte, gab 1969 in einer "Bazon-Brock Illustrierten" auch den Namensgeber — den damaligen, legendären KKS-Direktor — preis:
Offenbar hatte Studiendirektor Max Tiessen Anlaß gehabt, mich mit diesem Namen zu belegen.

Mister Germany und Superdenker

Dank Brocks vielfältiger Aktivitäten kamen noch viele hinzu. Bereits Ende der 60er Jahre war er u. a. als Mister Germany, Deutschlands schönster Dichter, Pop-Prophet, Lehrer der Nation, Meister der offenen Form, Messias einer Erlösung vom Konsumzwang, Altvorderer des Happening und Superdenker bezeichnet worden.
Die FAZ sah in ihm einen "Anti-Dutscke"; seine selbstgewählte Berufsbezeichnung "Generalist" beanspruchte bekanntlich sogar Bundeskanzler Kohl später zeitweilig für sich.
Spätestens Anfang der 70er Jahre als Universitätsprofessor, Mitglied etlicher Kunstpreis-Jurys, Spiegel-Essayist und Berater des Kunstmäzens und Bunte-Verlegers Hubert Burda in der deutschen Kulturszene fest etabliert, hatte Brock außer mit fundiertem kunsthistorischem Wissen sowie diversen Theateraufführungen immer wieder durch verblüffende Aktionen auf sich aufmerksam gemacht — z. B. sich für eine "Revolution des Ja", d. h. die totale Hingabe aller an die Medien- und Warenwelt stark gemacht.
Der eher wie ein Moderator oder Unternehmensberater gekleidete Denker forderte sogar, "den Tod abzuschaffen", denn "z. B. das Problem des Krebses" sei "unter Einsatz aller dafür notwendigen Mittel in 18 Monaten" lösbar.
Andererseits stieß der umtriebige Kunstmanager aber vielen Themen erst die Tür auf: Werbung, Kosmetik, auch die aktuelle Herrenoberbekleidung zogen dank ihm in die Feuilletons ein.

 

Mickymaus zum 50. Geburtstag gratuliert

Brock moderierte als Disc-Jockey, organisierte Ausstellungen in Berliner Möbelhäusern und gratulierte Mickymaus mit einem Artikel zum 50. Geburtstag.
Das Rüstzeug für solche Taten hatte sich der 1936 im pommerschen Stolp geborene Brock, wie die Durchsicht seiner Artikel in der Schülerzeitschrift "Ceterum censeo" beweist, zweifellos schon an der KKS angeeignet.
Dorthin kam er 1950 von der Grundschule Wilster. Nach harten Jahren: Nach der Flucht mit Mutter und Geschwistern 1945 aus Pommern — der Vater kam beim Einmarsch der Russen um — lebte die Familie zunächst in einem dänischen Internierungslager, wo zwei Geschwister verstarben. Nur Brock, seine Mutter und sein Bruder Lothar langten zunächst in der Wilstermarsch, dann in Itzehoe an.
An der KKS stachen seine rhetorischen Fähigkeiten bald so hervor, daß er sich zunächst als Mitarbeiter, später als Chefredakteur von "Ceterum censeo" ein erstes Sprachrohr erobern konnte.

Auf Itzehoer Bahnhof fürchterlich verdroschen

Wie die alten Heftchen belegen, entwickelte sich Jürgen Brock erst in den oberen Klassen schrittweise zum "Bazon"; noch der Obersekundaner machte sich nur die zeittypischen Gedanken über "Päckchen in die Ostzone" oder schrieb ein Stimmungsbild über die „kalte, unfreundliche Stille" auf den KKS-Fluren.
In der Unterprima mauserte sich der von Lehrer Nico Hansen auch außerschulisch geförderte Brock zum von den Klassenkameraden nicht durchweg bewunderten Schüler-Bohemien — Mitschüler Jesper Nissen, später Autor des "Kosmos"-Naturführers "Welches Pferd ist das?", will ihn auf dem Itzehoer Bahnhof sogar einmal fürchterlich verdroschen haben.
In "Ceterum censeo" jedenfalls zerbrach sich Brock nun auf vier Seiten den Kopf über die "Möglichkeit, die Dinge zu sein". Er handelte sich damit im nächsten Heft eine prophetische Mahnung von Studienrat Johannes Putz ein:
Brock steht mit seinen Gedanken an einem Punkt, an dem sich entscheidet, ob man die Welt als ästhetischen Spielplatz oder als Bereich von Mächten verstehen will, die uns immer wieder überwältigen können. Ich würde ihm vorschlagen, ein Jahr lang nur Kant zu lesen — ohne eigene Meinung.
Brock entschied sich für den Spielplatz und schrieb kurz vor dem Abitur noch einen Artikel über das Moment der irritierenden Schönheit in der Kunst Picassos.
In den Leserbriefen im folgenden Heft schimpfte ein Mitschüler über das unverständliche Deutsch; ein französischer Akademiker dagegen war begeistert. Abschließend stellte Brock in freien Versen den "neuen Dichter" vor. Das Gedicht endet: Dichter/ Fabelwesen/ in der Vorstellung der Mädchen/ imaginäres Leben,/ dessen Leiden die Blätter in den Mastkorb des Weinstocks führt/ Leuchte deren Gesicht die Länder erhebt/ Schwarze Masken/ Auge aus Rauch und Qualm.
Das daneben gedruckte Manifest zeigte bereits den voll entwickelten "Bazon": Man sollte den Anflug der Heiligkeit nicht scheuen, wie ein Pferd das weiße Papier. Die Heiligen sind es immer wieder, die für uns den Einführungsunterricht abhalten. LERNT fliegen.
Die seine kühnen Gedanken gewöhnten Klassenkameraden, auch Lehrer und ehemalige KKS-Schüler, die die Zeitung als Vereinsblatt hielten, dürften Brocks Treiben nach dem Abitur 1957 entsprechend gelassener verfolgt haben, als die deutsche Öffentlichkeit, die er nun mit seinem Mummenschanz unterhielt. Nach einem furiosen Abgang — bei Drucker George am Sandberg hatte er noch schnell das Gedicht-Bändchen "Kotflügel" herstellen lassen — war schon eineinhalb Jahre später im "Spiegel" über ihn zu lesen: Student Brock hatte den Kunstmaler Hundertwasser angestiftet, vier Tage lang in einem Zeichensaal der Hamburger Kunsthochschule zu arabischer Musik eine Linie an der Wand zu ziehen. In den frühen 60er Jahren geriet Brock dann u. a. dadurch ins Blickfeld, daß er Frankfurts Zoodirektor Prof. Grzimek bat, ein paar Tage einen Käfig bewohnen zu dürfen, und daß er zum 50. Jubiläum des Tages, an dem der James-Joyce-Roman "Ulysses" spielt, in Frankfurt falsche Bild-Zeitungen verteilen ließ: Alle Eigennamen waren darin durch die Roman-Hauptfigur "Bloom" ersetzt. Er klebte einem Schuljungen sein Foto auf den Ranzen und folgte ihm dann durch Frankfurt, stieß dabei gegen Laternenpfähle und rempelte Passanten an.
Auf der Buchmesse 1962 protestierte er gegen das zu "handliche" Taschenbuchformat mit einem unbedruckten 22 000-Seiten-Wälzer. Er las technikfeindliche Nietzsche-Texte vor einer im Leerlauf schnaufenden Dampflok auf dem Rangierbahnhof Sachsenhausen und erfand ein nur aus Reißverschlüssen bestehendes Kleid. Usw.
Zu all dem hatte Brock stets Thesenpapiere parat, in denen sein Primaneridealismus, ins Kolossale gesteigert, weiterlebte.
Gelegentlich kehrte er auch nach Itzehoe zurück, seine Angehörigen lebten ja weiterhin hier. Die Mutter arbeitete lange Jahre in der Netzfabrik und half später, wie sich Ostlandplatz-Anwohner erinnern, noch einige Zeit bei Kaufmann Ziehm (heute "Dubrovnik-Grill") aus, bevor sie ein Reihenhäuschen im Thüringer Weg bezog, das er ihr gekauft hatte.
Doch auch die Kunst rief ihn an die Stör: Laut Werkkatalog wurde 1961 in Itzehoe ein "Institut für Gerüchteverbreitung" gegründet.

"Gesellschaft zur Erforschung der Zukunft"

  1965 drehte er in der Wilstermarsch den Heimatfilm „Bazon Brock über Deutschland". Für 1966 vermerkt derselbe Katalog gar: „Deutsche Gesellschaft zur Erforschung der Zukunft" e. V. von Beuys (!) Brock, Buchholtz, Hansen, Kobstey, Noll in Itzehoe gegründet.
Auch später kam er vom Vermächtnis seiner Schulzeit schwer los: im Vorwort zum nie vollendeten Werk "Revolution des Ja" erläutert er z. B., wie Gymnasiasten das "generelle Rauchverbot" eines "äußerst autoritären Direktors" bekämpfen können — angeregt vermutlich durch den diesbezüglichen § 10 von Direktor Tiessens KKS-Ordnung.
Und im Monolog "Selbsterregung" zitiert er 1990 seinen früheren „Lehrer für Kunst und Physik: Schauen Sie einmal durch dieses Elektronenmikroskop. Entspricht das, was Sie sehen, nicht genau der Tröpfelmalerei unserer 50er Jahre?
Möglicherweise hat er dabei , Erinnerungen an die KKS-Lehrer Karstens (Kunst) und Carstens (Physik) zu einer Figur vermengt. Ein Liebesdienst der Familie erreichte ihr Weihnachten 1974 im Krankenhaus. Bis zum Tod seiner Mutter 1985 pflegte er über die Weihnachtstage sonst nach Itzehoe zu kommen, die erzwungene Ausnahme verleibte er sogar seinem Hauptwerk "Ästhetik als Vermittlung" ein: Bruder Lothar brachte ihm aus Itzehoe ein Weckglas "Wickelfüße" ans Bett — mit entschleimten, enthäuteten Därmen umwickelte Gänsefüße, geschmort, gebraten oder in Weißsauer". Brock war sich angesichts der westpreußischen Delikatesse sicher: Wir sind ganz sicher die einzigen in Deutschland, die noch Wickelfüße essen.

 

Brock machte Augstein zum Ehrendoktor

Wer will, kann im auf mehreren 1000 Seiten dokumentierten Werk etliche Belege dafür finden, daß Brock sich noch oft insgeheim gegen die übermächtigen Schatten der Itzehoer Vergangenheit stemmt, obwohl längst Enormes in seiner Macht steht — z. B. als nunmehriger Dekan an der Bergischen Universität Wuppertal Spiegel-Herausgeber Augstein 1987 zum Ehrendoktor zu machen. (Festredner: Marin Walser, im Publikum Hans-Dietrich Genscher).
Augsteins Promotionsurkunde wurde von Brock natürlich mit dem Spitznamen des alten KKS-Direktors unterschrieben. Die Itzehoer aber sollten sich zu Brocks 60. Geburtstag nächstes Jahr, spätestens aber zum 70., zu einer angemessenen Geste aufraffen und den Ostlandplatz oder die Alte Landstraße, die auf so verwunschene Art sein Andenken bewahren, nach ihm benennen.
Schließlich ist er jahrelang mit dem Fahrrad dort vorbeigekommen...