US-Rockidol – derzeit auf neuer Tournee- produzierte seine „beste LP“ in Rotenmeer

 

Lou Reeds Lieblings-Song entstand in der Wilstermarsch

  Presse und „Tagesthemen“ waren es immer noch ausführliche Meldungen wert, als Rock-Denkmal Lou Reed, inzwischen 54, Ostersonntag in Hamburg zu einer neuen Deutschland- Tournee aufbrach. Daran, daß sein Schaffen der Wilstermarsch zeitweilig eng verbunden war, werden sich wohl nur noch altgediente Fans aus dem Kreis Steinburg, erinnert haben.
Grund dafür war ein Vorläufer jetzt wieder kreisweit vorangetriebener High-Tech-Ambitionen: Das - bis heute in anderer Form weiterexistierende - Tonstudio in der Ortschaft Rotenmeer. Ursprünglich hatten die Betreiber, die Brüder Manfred und Wolfgang Schunke, ihr Studio in Berlin eröffnen wollen - im Großstadtlärm und zu erwartende Kosten brachten sie aber wieder davon ab. Statt dessen entschieden sie sich nach langer Suche für den ehemaligen Stademannschen Hof. Im Stallgebäude knobelte Tonmeister Manfred Schunke dann ab Mitte der 70er Jahre an einem damals bahnbrechenden Aufnahmeverfahren: "Kunstkopf-Stereophonie". Als Aufnahmegerät benutzte er einen Silikon-Kautschuk-Kopf, dem an der anatomisch den Trommelfellen entsprechenden Stellen zwei Mikrophone in die Gehörgänge eingebaut waren. So sollte ein menschlicher Wahrnehmung möglichst ähnlicher Raumklang zustandekommen. Nachdem sie mit Ständen auf Fachmessen auf sich aufmerksam gemacht hatten, bekamen die Brüder bald viel Besuch: Neben dem Ex-Ton-Ingenieur der Beatles, Alan Parson, für dessen „Project" sich viele Rock-Fans der 7Oer Jahre erwärmten, fanden auch damals beliebte Bands wie "Jane", "Can" und "Lindisfarne" den Weg nach Rotenmeer.
Ende März 1977 rollte dann ein Mercedes 600 Pullman z. T. über Wirtschaftswege - zu der Einsiedelei in Sichtweite der Brokdorfer AKW Baustelle. Einst Dienstkarosse Bundeskanzler Kiesingers, saß nun - für 140 Mark Grundmiete plus 50 Mark pro Stunde und 80 Pfennig pro Kilometer - Superstar Lou Reed im Fond. Die Boulevardpresse hatte er zuvor mit der Bemerkung, er fahre dieses Modell, weil er „für den unbequemen 450er zu lange Beine" habe, kräftig geärgert.
Hinter Reed lagen selbst für einen Rockstar ungewöhnliche Stationen: Als 17jähriger auf Initiative seiner Eltern wegen Homosexualität in einer New Yorker Heilanstalt 24mal mit schweren Elektroschocks behandelt, hatte sich der ehemalige Literatur- und Pianostudent später zeitweilig als Schlagerautor ernährt. 1960 war ihm dann, gemeinsam mit der legendären Band „Velvet Underground" der Durchbruch gelungen - Pop-Papst Andy Warhol engagierte sie für seine Multi-Media-Show „The exploding plastic inevitable". „In schwarzem Leder oder dunklem Vinyl stellten sich die Musiker mit dem Rücken zum Publikum und entrissen ihren Instrumenten Akkorde von sinistrer Schönheit und paranoider Aggressivität" charakterisierte das „Rock-Lexikon" der vier "Velvet" Musiker. „Reed ließ seine Gitarre in ausgeklügelten Rückkopplungen bis an die Schmerzgrenze schreien, Cales Viola warf elektronische Splitterbomben, Morrisons Baßgitarre dröhnte unheilvoll wie ein Schwarm Tiefflieger, und Maureen Tucker, erster weiblicher Drummer in einer Star-Rockband, trommelte klaustrophobische Monotonie. Dazu näselte Reed wie ein vom Marquis de Sade trainierter Dylan bislang unerhörte Lyrik, während Warhols Hauspoet Malanga die Bullenpeitsche schwang."
 
  Nach drei, bis heute als Meilensteine geltenden LPs löste sich die Band allmählich auf (ihr berühmtester Fan, Tschechen-Präsident Havel lud Reed noch 1991 ein, um ihm zu schildern, welch ungeheuren Einfluß die von ihm 1968 nach Prag geschmuggelte" „Velvet"-LP seinerzeit unter tschechischen Künstlern hatte).
Dem "Velvet"-Repertoire blieb Reed auch als Solo Künstler treu - weiterhin spiegelte sich in seinen ironisch-sarkastischen Songs die Welt aus dem Blickwinkel von Fixern, Strichjungen, Außenseitern und allerlei Spielarten verbotener Leidenschaft. Mit dem Titel „Take a walk on the wild side“, eigentlich einer Karikatur auf verschiedene Personen aus dem Umfeld Andy Warhols, gelangte er damit 1972 sogar in die Hitparaden.
 

Schnitzel bei Bauer Stademann

Ungeachtet sonstiger Vorlieben hielt er sich über den neuesten Standard der Aufnahmetechnik stets auf dem laufenden. So sollte ihm sein Abstecher 1977 in die Marsch Klarheit über den Wunder-Kunstkopf der Brüder Schunke verschaffen. Rasch war er überzeugt: Bisher damit aufgenommene Bands mochte er zwar nicht, doch Tonmeister Manfred Schunke wurde sofort ins Tournee-Team engagiert. Auch Studioapparaturen wurden verstaut, um Reeds Konzerte in München, Wiesbaden und Ludwigshafen für seine neue LP „Street hassle" mitzuschneiden. Schunke, ehemals Psychologie-Student aus Berlin, dann in den Umkreis der Elektronik-Rocker um Klaus Schulze und "Tangerine dream" geraten, kam so gut mit Reed zurecht, daß man weitere Projekte vereinbarte. Mit dem teilweise auf der LP verewigten deutschen Publikum, „aufgeblasenen Arschlöchern“ die „kein Wort Englisch" und „nicht bis zehn zählen" könnten, zeigte sich Reed in späteren Interviews weniger zufrieden. Manfred Schunke aber mußte bald nach der Europa-Tourne seine Kunstköpfe mißtrauischen US-Zollbeamten erläutern: Reed, der auch die amerikanischen „Kunstkopf“-Rechte erworben hatte, nahm mit ihm zehn Konzerte im New Yorker „Bottom line“-Club auf - Rohmaterial für die nächste LP „Take no prisoners". Das Toningenieure seiner Plattenfirma dann aber so dilettantisch abmischten, daß Reed 180 Roh-Bänder kurzentschlossen einpackte und sich im September 1978 erneut in Rotenmeer einquartierte. Untergebracht im für Gäste umgebauten Reetdachhaus von Bauer Stademann, schritt die Arbeit an der LP, laut Reed seine „bisher beste“, in den nächsten Wochen gut voran. Mit der deutschen Küche (Kartoffelpuffer, Wiener Schnitzel) freundete er sich an, die Stille der Elbmarschen ging dem Großstädter aber oft auf die Nerven.
 

Itzehoer Striptease im Morgengrauen

Die Geräuschsucht brachte ihn eines Sonntagmorgens darauf, sofort einen Radiorecorder kaufen zu wollen — sonst könne er nicht arbeiten. Studio Manager Wolfgang Schunke rief Wilsteraner Elektrofachhändler privat an und brachte den Sonntagseinkauf schließlich zuwege. — Vergnügt hüpfte Reed den „Ghettoblaster" auf der Schulter, anschließend auf dem Elbdeich herum. Auch die Einkaufsmöglichkeiten Itzehoes hat Reed mehrfach genutzt, stöberte in mittlerweile nicht mehr existierenden Platten - Läden (Seyen & Eggers; Membran, Musikhaus Steinmark) nach seltener Klassik und kaufte einen Fotoapparat, um Fußgängerzonen-Passanten zu knipsen. Selbst das Nachtleben der Störstadt fiel zufriedenstellend aus: Im „Chalet" am Sandberg konnte der verblüffte Reed im Morgengrauen das örtliche Striptease-Niveau begutachten. Andere Ausflüge führten in die Eisdiele von Wilster und auf die Reeperbahn.
Als „Take no prisoners" erschien, wartete Reed mit großen Ankündigungen auf. Das „Creem magazine" erfuhr Anfang November 1978: „Meine Ansprüche sind sehr hoch ... der größte Schriftsteller zu sein, der je auf Gottes Erde lebte. In anderen Worten — ich rede von Shakespeare, Dostojevski. Ich möchte das Rock'n'Roll-Werk machen, das auf einer Ebene mit den Brüdern Karamasov liegt. Ich hin auf dem richtigen Weg. Ich denke, ich habe gute Arbeit geleistet. Aber ich habe noch einmal die Oberfläche angekratzt. Ich glaube, ich fange gerade erst an."
Verwirklichen wollte er seine Pläne — im Vorjahr hatte ihm ein Senator tatsächlich einen Literaturpreis überreicht — im Monat danach im Studio bei Wilster. Diesmal brachte er seine Band mit. Der Kraftakt, der dann folgte - die LP „The Bells" - wurde unterschiedlich aufgenommen: „Der Text zu "Disco Mystic" besteht aus eben diesen zwei Wörtern, der von "I want to Boogie with you" aus wenig mehr, und selbst der akkustischen Collagen-Technik hat sich Lou Reed schon erfolgreicher bedient als bei `Allthrough the night` " mokierte sich „"Zeit"-“ Kritiker Franz Schöller. Reeds Plattenbosse waren angesichts von Werk und Verkaufszahlen gleichfalls irritiert. US-Kritiker Lester Bangs lobte hingegen im Rockblatt „Rolling Stone". Reed sei „endlich ein großer Schriftsteller" geworden.
Reed selbst hält den Text des Titelstücks für das beste, was er je schrieb - genauer gesagt, in einem Zug spontan ins Mikrophon improvisierte, nachdem sein Gitarrist Don Cherry ihm einige Takte eines Lieblingslieds („Lonely woman" des Jazzers Ornette Coleman) vorgespielt hatte (siehe Text unten).

   
 

"Die Glocken"

Und die Schauspielerin ist verbunden
mit dem Schauspieler, der schon seit Stunden
seit die Theater geschlossen sind
und die Leute in alle Winde zerstreut sind
durch die Straßen und Lichter der Stadt treibt.
Keine Eintrittskarte könnten kaufen
die wunderschöne Show der Shows
Broadway kennt nur
Die Große weiße Milchstraße
Die hat was zu sagen
Als er auf seine Knie sank
nachdem er sich in die Lüfte erhoben
ohne daß ihn irgendetwas halten konnte
Das war wirklich nicht niedlich
ohne Fallschirm aufzutreten
Als er am Abgrund stand
und glaubte, einen Bach zu erkennen ...
Und er brüllte: "Hier kommen die Glocken!"
"Hier kommen die Glocken!"
"Hier kommen die Glocken!"

  Lou Reeds Kommentar zu den „Glocken": „Dies fiel mir ein, als wir in den späten 70ern in Deutschland im Studio waren. Ich habe mit einem neuen System experimentiert, daß man Kunstkopf-Stereophonie oder 360-Grad-Sound nannte. Wir hatten ein sehr schönes Instrumentalstück ohne Text. Ich fand mich am Mikro wieder, wie ich vor mich hin singend diesen Text erfand Ohne jede Veränderung ist er noch immer mein liebster." (Zitiert nach: Lou Reed: „Texte". Aus dem Amerikanischen von Diederich Diedrichsen, Kiepenheuer & Witsch 1992].



  Das wegen dieser Eingebung zumindest für Reed gelungene Album sollte das letzte aus Wilster bleiben. Ende März 1979 startete Reed von Hamburg aus eine Deutschland-Tournee, die eine Woche später mit einem Fiasko endete. In Offenbach sorgte eine große Anzahl amerikanischer Soldaten im Konzert-Publikum für eine so gereizte Atmosphäre, daß der Sänger durchdrehte und eine 17jährige, die ihn eigentlich hatte beruhigen wollen, auf der Bühne zusammenschlug.
Anschließend verhaftet und nur gegen 10 000 Mark Kaution freigelassen, erlitt er am nächsten Tourneeort Basel einen Nervenzusammenbruch und mußte in ein Sanatorium.

Sein deutscher Toningenieur Manfred Schunke erkrankte in den folgenden Jahren an Krebs. Er starb 1983, noch bevor Reeds Einreiseverbot für Deutschland wieder aufgehoben war.