Das Kabinett des Doktor Degenhardt

  1. Teil: Der getreue Repetitor

  Männer Ende Sechzig, die im Sarg noch einmal an ihrer alten Schule vorbeitransportiert werden möchten, mag es viele geben. Denkbar auch, dass sich der eine oder andere für diesen Augenblick eine letzte Erektion ersehnt. Dies Ansinnen jedoch als „Testament“ zu vertonen und zusammen mit dem jüngsten Sohn zur Gitarre vorzutragen und auch noch auf Schallplatten zu verewigen, das hat sich bislang nur einer vorbehalten: der singende Rechtsanwalt Dr. Franz Josef Degenhardt.

Doch das ist bestimmt nicht die einzige Extravaganz, die sich der unermüdliche Agit-Prop-Mann aus Schwelm bei Wuppertal leistet. Wesentlich obsessiver und wahnhafter dünkt da sein Wiederholungszwang – der macht das eigentlich Delikate am Manne aus. Immer wieder, Buch um Buch und Platte um Platte, verquirlt und verquickt, arrangiert und travestiert Degenhardt seinen immer gleichen Stoff; angeordnet wird der rätselvolle Kosmos dabei durch ein elementares Aufbauprinzip – quasi Degenhardts »Comédie humaine«.
»Denn Degenhardt ist unser Balzac«, postulierte Matthias Altenburg bereits 1991, anlässlich des Erscheinens von Degenhardts bislang letzten Roman in konkret: Auch jenes Werk, ein Lebensbild des Dichters Hoffmann von Fallersleben, gehöre »zu der Comédie humaine unserer Tage, an der der Dichter und Sänger seit 30 Jahren schreibt«.
Altenburgs Expertenkompetenz ist unstrittig; umfassend wie nie zuvor hatte ihm Degenhardt Auskunft über Werk und Leben gegeben und interviewhalber auch mitgeteilt, es habe bei ihm im heimischen Viertel fast nur »Mitläufernazis« gegeben, selbst der katholisch inspirierte Widerstand seiner Eltern sei im nachhinein keinesfalls ausreichend gewesen.
Aus solchem Nachholbedarf heraus hatte er sich daher 1973 mit seinem Erstling »Zündschnüre« die passende »Wunschbiographie« erschrieben. Ein paar verwilderte Schmuddelkinder durchleben darin zusammen mit erwachsenen KP-Genossen kurz vor Kriegsende diverse Untergrund-Episoden rund ums Schwelmer Eisenwerk. Dabei wird deftig aufgetischt, sämtliche Figuren können vor vitaler Urwüchsigkeit knapp geradeaus laufen – insgesamt erinnert dies fiktive, auf der beigefügten Schauplatz-Skizze aber ganz wirklichkeitsgetreu abgebildete Roman-Schwelm darum eher an ein bestimmtes gallisches Dorf als an antifaschistische Widerstandsrealität.

Westfalia non cantat?

Je nun, seit 1963 stemmt sich Degenhardt, damals noch Assistent an der Universität Saarbrücken, diesem Verdikt entgegen, ließ der Promotion über »Auslegung und Berichtigung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs« darum keine Habilitation mehr folgen und ging statt dessen lieber als Protestsänger auf den langen Marsch durch die Zeitgeschichte.
Die legendäre »Schmuddelkinder«-Ära liegt noch weiter zurück als sein SPD-Rausschmiß 1971 wegen DKP-Werbung im schleswig-holsteinischen Wahlkampf – mittlerweile eisgrau, ist er nun seit 35 Jahren singend und schreibend unterwegs, dabei jahrzehntelang gehandicapt durch einen recht einhelligen öffentlich-rechtlichen Auftrittsboykott; nach kurzer 68er Agit-Prop-Phase (»Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf!«) war er stramm auf Parteilinie eingeschwenkt.
Ungeachtet wechselseitiger Unzurechnungsfähigkeitserklärungen von Sänger und Ex-Fans wuchs das via Polydor, Hoffmann & Campe, Rowohlt und Bertelsmann vertriebene Œuvre stetig an: auf allmählich über zwei Dutzend LPs, sechs Romane, mehrere Liedtextsammlungen und ein Jugendbuch. Und der ansehnliche Stapel macht bei eingehenderer Beschäftigung eines rasch klar: dass nämlich die gängige, von Sänger wie Verächtern so vehement verfochtene Leseart vom roten »Väterchen Franz« den Blick auf den eigentümlichen Zwangscharakter dieses Werks nur verstellt: Es ist viel eher eine notdürftigst mit Hammer und Sichel drapierte Dokumentation des Haders mit sich selbst und dem eigenen Talent, durchsetzt mit einem Potpourri privatester Schrullen und Obsessionen.
Ganz wie bei Balzac tauchen auch bei Degenhardt immer wieder vertraute Protagonisten auf; seit den »Zündschnüren« sind es die ehemaligen Bandenmitglieder Ernst »Fänä« Spormann, Benno »Zünder« Krach, Waldemar »Tünnenmann« Niehus, Herbert »Viehmann« Ronsdorf und Gisela »Sugga« Trietsch.
Hauptfigur im Folgeroman »Brandstellen« von 1975 ist zwar der 35jährige Revoluzzer und RAF-Anwalt Bruno Kappel, der seine Ex-Freundin finden und von deren Kombattanten loseisen will, doch als den gebürtigen Schwelmer sein Weg zwischendurch in die Heimat führt, trifft er dort viele alte Bekannte: Seinen Vereinskameraden vom TUS 98 etwa, den gefürchteten Mittelstürmer Ernst »Fänä« Spormann, nunmehr DKP-Funktionär; auch dessen Ex-Genossen »Tünnemann« Niehus, nun SPD-MdB.
Am Ende wird Kappel gar »Viehmann« Ronsdorfs Schwiegersohn, als er auf dessen weitläufigem Autoverwertungsgelände seine Tochter, die 19-jährige Maria, kennenlernt. Mit ihr, Spormann und den anderen kämpft Kappel dann in einer Bürgerinitiative gegen die Umwandlung des Nuturschutzgebiets »Klein-Schweden« in einen Truppenübungsplatz und kehrt schließlich ganz nach Schwelm zurück.
  Figurentechnisch ähnlich erging´s dem Hamburger Vormundschaftsrichter Hans Dörner, Hauptakteur in der nur noch beinahe verfilmten »Misshandlung«. Auch hier schwimmt alles im vertrauten Fahrwasser: Aufgewachsen in einem Tante-Emma-Laden im Schatten des Schwelmer Eisenwerks, hat sich Richter Dörner schon als Kfz-Lehrling bei Autoverwerter Ronsdorf was dazuverdienen dürfen.
Den im vorangegangenen Roman als SPD-MdB vorgestellten »Tünnemann« Niehus kennt er noch als Gewerkschafter und TUS-98-Trainer. Von beider Kumpan Benno »Zünder« Krach erfahren wir, dass er nach dem Krieg ein paar Kirchen ansteckte; Dörner selbst hört von niemand anderem als Autoverwerter Ronsdorf, was sein Vater als SS-Wachmann im »Russenlager« des Eisenwerks russischen Gefangenen so alles antat – u.a. nämlich einen Jungen in einem Lagerschuppen verhungern ließ. Womit natürlich Dörners Hartnäckigkeit und seine allmähliche Hinwendung zur DKP plausibel wird.
Dass DKP-Ehepaar-»Fänä« Spormann und »Sugga« Trietsch seit »Zündschnüre«-Zeiten liiert – beherbergt seinerseits nicht nur den jugendlichen Ich-Erzähler in Degenhardts bislang einzigem Jugendbuch »Petroleum und Robbenöl« (den natürlich ein Spormann-Sproß von der Jugendmannschaft TUS 98 trainiert), nein, Frau »Sugga« bestärkt ihn auch, als der Vater des Jungen, ein Öl-Manager, durchdreht und Eskimo wird, dem Wunsch seines Erzeugers nachzukommen und dieses Ereignis als heilenden Schamanenzauber aufzuschreiben.
Und im »Liedermacher«, einer belletristischen Milieustudie aus der Song-Poeten-Szene, schildern alternierend der Sänger Piet Atten und sein Roadie Manne Kröger die Geschichte ihrer Zusammenarbeit. Kaum hat man sich nämlich entzweit, fängt Roadie Kröger im Eisenwerk in der Fahrzeugwartung an, wird Vertrauensmann und trifft auf der Zellensitzung natürlich den jetzt im Stadtrat sitzenden Genossen »Fänä«.
Nur in seinen beiden letzten Romanen hat Degenhardt die Plot-Dimensionen derart verschoben, dass er sein Standardpersonal kaum mehr einbauen konnte – dafür entschädigen aber zahlreiche Motivwiederholungen für die Abwesenheit des vertrauten Personals. Man sieht: absichtsvoll strukturierender Formwille kennzeichnet Degenhardts Prosa durchweg.
So dass nur zu fragen bleibt, wie´s um das simultan ständig gewachsene Musikrepertoire steht: »Ich mach den alten Stadtrundgang«, singt Degenhardt 1981 im Lied »Nach 30 Jahren zurückgekehrt« und wundert sich, »warum nicht Viemann Ronsdorf da und nicht die scharfe Sugga Trietsch? Warum sagt Fänä Spormann nicht: › Na, Fränzken, bisse wieder hier ?‹«
  Dem Hörer geht´s ähnlich. Gängigere Degenhardt-Praxis aber ist eine Art Feature-Crossover zwischen Prosa und Lied: »Haare wie Tomatensaft« trägt die mit Ernst Spormann im Schwelmer Stadtrat sitzende

APO-Bodo und Bumser-Pacco

Genossin Elke Trever aus dem »Liedermacher«, im gleichnamigen Lied hingegen Glühlampen-Vorarbeiterin Natascha Speckenbach (womöglich eine Kusine, Irmgard Speckenbach, ist in der Prosa dafür Nudelfabriks-Vorarbeiterin bei »Birkel«).
Dies verdeutlicht zugleich Degenhardts freien Thementausch zwischen den Genres: Etliche Prosafiguren erleben nämlich Situationen seiner Lieder noch einmal – sei´s Rationalisierer Kreiter, der ein Remake des APO-Opportunisten »Bode, genannt der Rote« ist, sei RAF-Anwalt Kappel aus den »Brandstellen«, der einen bereits 1964 als »Zug durch die Gemeinde« vertonten Kneipenbummel wiederholt.
Den wildesten Zickzack legt dabei die schwachsinnige, schon 1966 besungene und damals von Angehörigen noch ins Sanatorium verfrachtete »Tante T´rese« hin: als weiterhin spinnerte Tante von Anwalt Kappel im »Brandstellen«-Roman zwischengelagert, lieferte Degenhardt sie dann 1996 in dem Couplet »Nach fünfzig Jahren« doch noch dem Euthanasie-Tod bei den Nazis aus.
Der Terror-Spezialist »Bumser Pacco« ist nicht nur Kampfgefährte von Kappels RAF-Freundin Karin Kunze, sondern mit seiner »Big Raushole« auch Titelheld einer von unserem Barden frei phantasierten Terror-Rhapsodie, die reaktionäre Suada des Genossen Orgemann im »Liedermacher« ein Duplikat von Degenhardts APO-Hit »Vatis-Argumente«. Umgekehrt ist »Liedermacher« Attens größter Erfolg der zum »Komm mal rüber auf die dunkle Straßenseite, Junge« verballhornte »Schmuddelkinder«-Hit.
Und noch eine Spielart wird im »Liedermacher« vorexerziert: Piet Atten träumt dort von einem konsumkritischen Happening, bei dem er mit Gleichgesinnten »unvermummt, aber mit Fahrradketten, Hockeyschlägern und Morgensternen hindurchziehen, die Vitrinen zertrümmern und Panoramascheiben zerschlagen, über das splitternde Glas in die Tempel stürmen, Schuhe zerfetzen und Hosen zerreißen, Delikatessen in Nerzmäntel schmieren, Zuchtperlen übers Pflaster springen lassen, mit Big Macs klütern, den weißen Riesen kastrieren und, behängt mit Brautkleidern und Krokodilledertaschen, Jogging-Kappen auf den Köpfen und Hartgummischwänze aus den Pornoläden über die Nasen gestülpt, den Kleiderpuppentango tanzen« will. Elf Jahre später, 1993, präsentierte dann Degenhardt selbst Attens visionäres Projekt größtenteils wortgleich im Titelsong seiner LP »Nocturn«.
Eine Unzahl großzügig übers Gesamtwerk verstreuter Doubletten macht den Reigen selbstreferentieller Rekurse komplett: Sowohl das »Hasenschartenkind« im Lied »Väterchen Franz« wie auch Stotterer Abbatz in den »Zündschnüren« haben von Ratten bewohnte Modellbaustädte gebastelt; matriarchalische Urmütter, die sich vor Gericht als »Bäuerin« bezeichnen, sind die »Helen« in der »Misshandlung« und die »Maria« in der »Abholzung«; sprücheklopfende Sinatra-Fans als Liebhaber haben »Brandstellen«-Kappels Schwägerin Thea wie »Liedermacher« Attens WG-Mitbewohnerin Vera; zu Beerdigungen nach Schwelm fahren Richter Dörner in der »Mißhandlung« und Degenhardt selbst im »Heimweh-Blues«.
Und nicht nur in der »Mißhandlung« fachsimpelt man in einem exquisiten Feinkostladen an der Käsetheke, als ausgesprochener Käse-Kenner produziert sich vor einer solchen auch Architekt Bernward Bille in der »Abholzung«. Kurzum – nicht im Traum scheint unser

Schrott und flotte Flitzer

Mann daran zu denken, dass sich irgendwer noch mal einen Überblick über sein Werk verschaffen und dabei ggf. stutzig werden könnte.
Fraglos hat Degenhardt zwar schon mit seiner Methode der Genreverdoppelung in Lied und Prosa den Figuren-Recycler Balzac erzählökonomisch überrundet - doch während in dessen über 90 versippt- und verschwägerten Romanen gut 3000 Figuren das gewaltige Handlungsräderwerk in Schwung halten, um ein möglichst komplettes Panorama ihrer Zeit abzuliefern, frappiert bei Degenhardt nur die unerbittliche Zwangsläufigkeit, mit der sein Personal das immergleiche Präferenzen-Karussell besteigen muß, damit überhaupt was passiert.
  Die Ursprünge dieser immer wieder mächtig durchschlagenden Fixierungen zu ergründen, könnte man wohl der tiefenpsychologischen Analyse überlassen, mit der er in Lied und Prosa immer mal wieder kokettierte – wenn nicht das ganze so komisch mit der realsozialistischen Mimikry kontrastierte, mit der er sich nun schon ein veritables Vierteljahrhundert die Unaufhebbarkeit einmal gewählter Selbstfestlegungen vortäuscht – beides scheuert sich entsprechend und zeitigt als Kompromiß diese verwaschenen Kunstprodukte, hinter deren allzeit kitschwilligem Attitüdenkrampf die unterschwelligen Spezialitäten um so hartnäckiger ihr Wesen treiben.
Zum Teil wurden sie ja schon traktiert – dass Degenhardt Fußball-Fan ist, nach eigenem Eingeständnis als Halbwüchsiger in der Schwelmer A-Jugend »nur von Spiel zu Spiel lebte«, zeigt ja schon der grußeiserne Dogmatismus, mit dem er so viele Buchfiguren zu Vereinskameraden seines zum »TUS 98« abgewandelten Ex-Fußballclubs »Rote Erde« macht.
Und den starken Hang zu Kraftfahrzeugen erhärten ja bereits die zahlreichen Romanplazierungen der Ronsdorf´schen Schrottplätze. Nimmt man hier noch das Liedschaffen hinzu, wird´s wirklich uferlos: Von Beginn an, so im Lied vom »Rumpelstilzchen«, fegte der Wind bei ihm »durch tote Autos«, als »Schrottplatzgelächter« pries er das Lachen von Wolfgang Neuss in einer ihm gewidmeten Ballade und im »Liedermacher«; »Zigeuner hinterm Haus des Sängers« (Liedtitel) mussten 1970 dort rasten, weil »das Differential« an ihrem Fahrzeug kaputt war – wegen dringender Kupplungs-Reparaturen muß auch Manager Steingrüben in der »Abholzung« seine Ex-Geliebte zur Werkstatt fahren.
Flottere Flitzer gibt´s zwar auch zwischendurch: »Horsti Schmandhoff« fuhr seine Blondine 1966 »im off´nen Jaguar« spazieren, scharf war auch der »rote Porsche«, mit dem die »rote Rita« den indianischen Vietnam-Deserteur »P.T. aus Arizona« ein Jahr später aus einem Karlsruher Puff zur französischen Grenze schmuggelte, jedoch – P.T.´s »alter Chrysler« ist da symptomatisch – Dellen und Totalschäden überwiegen massivst. »Und eines Tages hat er eine Kurve glatt verfehlt / man hat ihn aus einem Ei von Schrott herausgepellt« heißt es nicht umsonst in der letzten Strophe der »Schmuddelkinder«.
Nun macht die Begeisterung für Autos und Fußball einen in Deutschland nicht grade zum Außenseiter – anders liegt der Fall schon bei einem ähnlich wuchtigen Handlungsfaktor: dem Tanz.
Ein Plattenmotto aus dem Jahr 1990 kann da getrost wörtlich genommen werden: »Wer jetzt nicht tanzt, der ist selbst schuld.« Schon 1963 brachte Degenhardt eine eigene »Tarantella« heraus, neigte dann vorübergehend zum Twist (»Der Dicke tanzt jetzt einen Twist, wobei er eine Bockwurst ißt«), vermengte beide Tänze dann aber in »Adieu Kumpanen«

Tango mit Oma und Opa

zu der eigenwilligen Synthese, »daß Taranteln alle Oberlehrer küssen/ dass sie zu ihren eignen Hymnen twisten müssen«. Ab 1979 gab´s auch einen eigenen »Reggae«, auf der »Wer jetzt nicht tanzt«-Platte sogar einen »November-Lambada«.
Der phänotypische Standard-Tanz für Standard-Situationen blieb ihm aber über alle Trends hinweg der Tango. Oma Bertram und Opäken Thiel tanzen ihn auf einer »Zündschnüre«-Hochzeit, »Brandstellen«-Anwalt Kappel bewegt sich auf einer Soirée des Schriftstellers Barthel »im Tangotakt zu dem von den Meistern Stephane Grapelli und Yehudi Menuhin furios gestrichenen Tangostück ›Jalousie‹«. Auch Richter Dörner, gleichfalls Tango-Fan, erinnert sich an einen Zufallstanz mit der Wirtin einer Kneipe, »Liedermacher« Atten hingegen will nicht nur den »Kleiderpuppen - Tango« tanzen, er gerät auch in eine Talk-Show, bei der ein Paar »einen Tango hinlegt«, und erinnert sich wehmütig daran, wie seinerzeit sein Roadie in der badischen Schenke »Joß Fritz« mit Lore den Tango tanzte »zum Bandoneonspiel von Alfons zur Stunde des Fauns«.
Jenseits des Tangos und jenseits selbst der in einem Dutzend Liedern gegen Ende »schreienden Nachtvögel« wuchern jedoch noch Obsessionen ganz anderen Zuschnitts.
Was seinen ersten Liedern atmosphärische Dichte verlieh – Trümmerhaldenkulisse, Hinkemänner, Pissoirkritzeleien-Ästhetik – ist recht leicht zu dechiffrieren: als kaum verlarvte Pubertätsprägungen Jung-Degenhardts, als das heimatliche Schwelm regelmäßig von alliierten Bomberverbänden heimgesucht wurde.
Die forcierten ja nicht nur die schrittweise Auflösung der Nazi-Ordnung am Boden, sondern ließen dem Heranreifenden mit den Ruinenlandschaften auch einen tollen Abenteuerspielplatz zurück samt ambivalent-frivolem Verhältnis zu Zerstörung und Gewalt.
So kommen die zahlreichen Auto-Chrashs und Schrottgemenge, die Materialzerstörungen und Menschenzermatschungen im Werk kaum von ungefähr; generationentypisch gleichfalls lustbesetzt sind ihm auch alle Arten von Verkrüppelungen und Entstellungen: als Wehruntaugliche, Invaliden und Schullehrer beherrschten sie das Alltagsbild zur Zeit seiner stärksten Reizempfänglichkeit ja tatsächlich viel mehr als heute – was sein Dichten deutlich wiederspiegelt.
Buckelig sind der »Handelsvertreter« in der »Tarantella« und der feinsinnige Lokrangierer Lorenz Fuchs aus den »Zündschnüren« (der auch die von der Hüfte an gelähmte leninistische Oma Berta Niehus heiratet), bucklig ist die fröhliche katholische Jugendrechtsvertreterin Rosa Laubscher in der »Misshandlung«. Es hinken – außer dem schon erwähnten Fahrer des roten Unfallwagens – z.B. der Küster im Lied »Feierabend« und die Tochter von Schuster Siepmann in den »Zündschnüren«, eine Hasenscharte hat außer dem gleichnamigen Kind aus der »Väterchen-Franz«-Ballade auch die Schwester Tita von Stotterer Abbatz in den »Zündschnüren«, basedowkrank sind der Genosse Orgemann im »Liedermacher« und Audi-Händler Schurig in der »Abholzung«, blind Richter Dörners Kollege Vahlefeld, »armlos« Stammgast Franz bei »Mutter Mathilde«, immerhin »einarmig« noch der redliche Geselle, der im 1988er Spruchgleichnis »Von der Fahne« weiter treu bei dieser – roten – blieb.
An einem Blindgängerbombenspiel zerfetzten »Hansi Schmidt« (»die Beine weg, den Kopf verrenkt / die Bombensplittersammlung hat / mir seine Mutter dann geschenkt«) erinnerte sich Degenhardt semi-fiktiv im Lied »nach 30 Jahren zurückgekehrt«,

Abhacken, abhacken, abhacken

und einen »Albert Stratmann« nannte er dem Interviewer Altenburg als »ersten Verwundeten im Viertel, dessen Armstumpf wir befummeln durften«.
Der Name Stratmann spukt seitdem in allen möglichen Zusammenhängen bei ihm herum. Wie obsessiv in Degenhardts Texten geprügelt, verstümmelt, gebissen, gebrannt wird, wäre nebenbei auch ein schönes Dissertations-Thema für Psychologen: In der Frühphase noch eher metaphorisch Kinder, Musikinstrumente oder »uns´re alten Lieder« – später, als sich mit der Politisierung dank faschistischer Bestien, Ledernacken, Vietcong und RAF auch ein neues Klischeereservoir erschloß, aber auch direkt: als »Kugel im Bauch« für die »Vertreter des Sowohl – als auch« oder als antiimperialistische Totalzerstückelung: »Die Zehen abhacken, die Füße abhacken, die Beine abhacken, die Arme abhacken, die Hände abhacken, den Kopf abhacken.«
Blanke Versehrungs-Obsession wird´s schließlich auch gewesen sein, die ihn im »Liedermacher« sein Intimwissen über Katja Ebsteins Schönheitsoperationen preisgeben ließ: »Siehst Du, da hat sie noch die krumme Nase, unsere Katja«, sagt da ein alter Atten-Weggefährte beim Blättern in Foto-Alben, »und kaum Busen. Alles neu heute. Sogar Stücke zwischen den Schultern haben sie ihr rausoperiert.«
Wer aber im Showgeschäft wegen seines »Kavaliersschwänzchens« tatsächlich mit enormer Schwanzattrappe auftritt (wie Atten-Rivale Ricki Reuter bzw. der Schlagersänger-Freund von Anwalt Kappels´ Schwester), ließ er hingegen offen. Nun ja.
Des Doktors Penis aber gehört – wie Mauersegler, Bahndämme, die Erlenhöhle und die regressive Dialektik von Bischof und Eskimo – in die Phänomenologie intimer Privataltertümer, der die nächste Folge vorbehalten ist.